Wer »unterkomplex« sagt, ist nicht oberschlau

Plötzlich nennen Menschen ständig alles Mögliche »unterkomplex«. Machen sie es sich damit nicht zu einfach?

Mit manchen Trend-Wörtern nimmt man den Mund ganz schön voll.

Foto: David Avazzadeh/Connected Archives

Entschuldigung, es könnte sein, dass Ihnen das, was jetzt kommt, etwas unterkomplex erscheint. Also: zu einfach gedacht, zu naiv, verkürzt dargestellt. Wenn Sie so etwas gern »unterkomplex« nennen, sind Sie hier richtig. Und wenn Sie den Begriff nicht leiden können, erst recht.

Das Wort hat ganz schön Karriere gemacht. Es taucht in Leitartikeln und Kommentaren auf – »Die grassierende Heils­erwartung ist unterkomplex, uninformiert und lenkt von der eigentlichen Frage ab« (Der Spiegel), »Verglichen mit Beyoncé ist natürlich alles Politische unterkomplex« (Die Zeit), es wird bei Kneipendiskussionen in die Runde geworfen (»Markus Lanz ist mir echt zu unterkomplex«), es spaziert daher, wenn Menschen über Literatur reden, über Philosophie, über Musik (»Also bitte, die Liedchen von Chappell Roan sind ja wohl eher unterkomplex«).

Im Grunde wollen Menschen, die es benutzen, damit nur sagen, dass sie etwas zu simpel finden. Dass zum Beispiel ein Gedanke nicht weit genug geht, die Verhältnisse nicht gründlich erfasst. Aber »unterkomplex« will sofort nach mehr klingen. Nach Weitsicht, nach Souveränität, nach Checkertum. Wer anderen Unterkomplexität vorwirft, behauptet von sich selbst, die Komplexität voll zu durchschauen. Mag sein, dass du, Gegenüber, die feinen Verästelungen unseres Themas nicht durchdringst, aber ich sehe alle Details so klar wie der Schachgroßmeister das Matt in drei Zügen. »Unterkomplex« trägt einen dünnen Rollkragenpullover und schaut leicht blasiert durch eine schwarz gerandete Brille.

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Dass wir uns nicht falsch verstehen: Sollen ruhig alle alles unterkomplex nennen. Wörter verbieten ist was für Verlierer. Aber es gab doch viele Formulierungen, die aus­reichend präzise ihre Arbeit gemacht haben, bevor »unterkomplex« sie abräumte. »Verkürzt«. »Einseitig«. »Oberflächlich«. »Wird der Sache nicht gerecht«. »Zu kurz gedacht«. Aber diese Ausdrücke beschreiben eben nur ganz sachlich, dass eine bestimmte Überlegung nicht reicht. Mit dem schlau tönenden »unterkomplex« dagegen lässt sich so schön auf andere herabblicken. Ein elitärer Bluff. Banale Erkenntnis, lackiert mit Goldimitat.

Natürlich, manche mögen sagen, das Wort passt doch gerade jetzt sehr oft sehr gut, weil die Welt im Moment so schrecklich komplex ist (damit meinen sie meistens: kompliziert). Und natürlich, jede Zeit liebt ihre eigenen Modewörter. »Entfremdung«, »Dialektik« und »Struktur« melden sich ab und zu aus der Vergangenheit, auch die gute alte »Dekonstruktion« schaut immer mal wieder vorbei. Aber bei diesen Modewörtern ging und geht es auch um neue Sichtweisen, sie benennen Zusammenhänge, über die zuvor nicht genau gesprochen worden war. »Unterkomplex« dagegen kommt ins Zimmer und sagt auch nichts anderes als alle, die schon da sind, das aber selbstgefälliger.

Wann das Wort zum ersten Mal auftauchte, ist nicht genau zu belegen, ursprünglich stammt es aus der akademischen Welt. Schon vor Jahren hieß es in Uni-Texten, dieser und jener Autor liege richtig »mit seiner impliziten Behauptung, dass alle wirtschaftswissenschaftlichen Modelle im Vergleich zur Wirklichkeit notwendigerweise unterkomplex sind«. Oder: »Man könnte sagen, dass für Marx das Problem des ›Privateigentums‹ unterkomplex ist.« Originalzitate von Professoren. An der Universität gilt ja bis in alle Ewigkeit – wie jeder weiß, der mal eine Hausarbeit auf die nötige Länge dehnen musste – die Grundregel: Sage nichts in einfachen Worten, was du auch mit einer Wagenladung Fremdwörter und Fachbegriffe überschütten kannst.

»Unterkomplex« hätte ruhig an der Universität bleiben dürfen. Es könnte sich ein schönes Leben auf dem Campus machen, in die Mensa gehen und hier und da in einer Seminararbeit Platz nehmen. Aber es wollte dringend raus. Und jetzt gockelt es überall durch die Gegend. Gern in Begleitung von »Diskurs« und »Konstrukt«, »Ambiguität« und »Narrativ« und der ganzen Angeber­clique. Manchmal trifft man sie alle auf einmal in einem Café und will am liebsten sofort zahlen und gehen.

Wie gesagt, es sei niemandem abgesprochen, etwas unterkomplex zu nennen. Sprachpolizei ist bäh. Aber vielleicht können wir uns ja darauf verständigen, dass das Wort bei Weitem nicht so klug und eloquent ist, wie es klingen will. Wer etwas »unterkomplex« nennt, wirkt nicht automatisch klüger als alle anderen im Raum. Kann aber sehr wohl trotzdem ein netter Mensch sein. So komplex ist das nun mal mit Sprache und ihren Benutzern. Beziehungsweise so simpel.

OSZAR »